(Ein Kurzreview von Carsten Henkelmann)
Paul Rivers (Sean Penn) ist schwer krank und wartet dringend auf ein Spenderherz. Dies bekommt er von dem Mann von Cristina Peck (Naomi Watts), der bei einem Unfall gestorben ist, den der Ex-Häftling Jack Jordan (Benicio Del Toro) verursacht hat. Besessen von dem Gedanken, wem das Herz vorher gehört hat, nähert er sich Christina, die ihren Kummer mit Alkohol und Drogen zu verarbeiten versucht. Sie bittet schließlich Paul Jack Jordan umzubringen...
Nach seinem höchst empfehlenswerten Amores Perros liefert Regisseur Alejandro González Iñárritu einen weiteren Film mit einer komplexen Handlungsstruktur ab. Aber während in Amores Perros die drei nur bedingt zusammenhängenden Geschichten noch nacheinander und liniear erzählt wurden, so bricht er in 21 Gramm mit allen erzählerischen Konventionen. Die drei Handlungsstränge werden wie eine Art Puzzle erzählt, dass der Zuschauer für sich selbst chronologisch zu ordnen hat und erstmal herausfinden muss, wer mit wem in welcher Beziehung steht und wann was passiert ist. Nach einiger Zeit ordnet sich das erzählerische Chaos, je mehr Informationen an den Zuschauer weitergegeben werden, und der Film entpuppt sich als ein überaus menschliches Drama, in dem drei Personen direkt mit dem Tod konfrontiert werden. Paul liegt fast im Sterben, Christina verliert ihre ganze Familie und Jack tötet ungewollt drei Menschen und wird dadurch in seinem religiösen Glauben erschüttert. Sean Penn, Naomi Watts und Benicio Del Toro legen allesamt eine grandiose Leistung hin und wirken überaus überzeugend in ihren Rollen. Ein nicht gerade einfacher, aber dafür um so faszinierenderer Film, der trotz seiner scheinbar unstrukturierten Erzählweise die Charaktere dem Zuschauer näher bringt und ihn mit einer melancholischen Stimmung verabschiedet. Ganz großes Kino, wenn auch nicht für jedermann!
© Sense of View
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Redaktion.
© 1998 - 2024: Sense of View / Carsten Henkelmann
15.05.2007, 17:24:14 Dietmar Kesten
21 GRAMM
DÄMMERUNG
von DIETMAR KESTEN, GELSENKIRCHEN, 28.
FEBRUAR 2004.
Einschläfernd ist die Geschichte nicht, im Gegenteil. Sie führt in die Tiefen des Entsetzens und der tragischen Rückblenden, der Höhen der Panik und dem Fall des Selbstbewusstseins. In einem Drama, das drei Personen mit dem Tod konfrontiert, deren Lebenswege sich kreuzen, versucht der mexikanische Filmautor Alejando Gonzales INARRITU („Amores Perros“, 2000, „11. 9, 01“, 2002) eine Übereinstimmung aus Realitätsnähe und Kunstanspruch ins Kino zu bringen. Mit Sean PENN, Naomi WATTS, Benicio DEL TORO und Charlotte GAINSBOURG holte er hochkarätige Leute vor die Kamera In „21 Gramm“ (verweist auf die Masse, die ein Mensch im Augenblick des Todes verliert) geht es um einen Patienten, der dringendst eine Herztransplantation benötigt (Sean PENN), die Frau eines Mannes (Naomi WATTS), der bei einem Autounfall ums Leben kommt und die Transplantation gutheißt, und demjenigen, der den Unfall verursacht hat (Benicio DEL TORO).
INARRITU legt einen packenden Film vor, der dazu auffordert, über den Tod nachzudenken, über das Leben, und wie der Tod und die Toten das Leben und die Überlebenden beeinflussen. Menschliche Schicksale in Anspannung und bewegender Panik im Film darzustellen, ist im Kino selten genug. Meistens ist es die Sucht der Filmgesellschaften und der Regisseure danach, eine hohe Einspielquote zu erreichen. Tiefe problematische Filme sind daher eine Seltenheit, zumal sie in den Abgrund der menschlichen Psyche blicken und sich einen Dreck um Hollywood scheren. Wenn man in die Seele blickt, dann nagt das am Rest des Lebens. Im Film liebt man, damit sich die eigenen Visionen erfüllen, man tötet, damit sich das Inferno in den letzten Bildern widerspiegelt, man überlebt, weil die Welt vor einer Katastrophe steht, die nicht nur in Bildern aufgezeichnet werden. Man hat Schuld, weil andere die Stärkeren sind, und man selbst nur ein Schwächling ist. Wie viel mag die Liebe wiegen, wie viel die Schuld, wie viel die Rache, was überwiegt im Leben, was wiegt schwerer, die Außenwelt, die Innenwelt, die Bilder vom Sehen und der Blindheit, der Blick, das Wort, die Augen der Sterbenden, die Geste der Barmherzigkeit, die Gräber, die Gesichter in der Trauer, Lebende oder Tote?
Alles hat irgendwie miteinander zu tun. Das ist das Geheimnis des Films, seine innere Bewegung und seine wahre Identität. Zwischen Leben und Tod, zwischen Werden und Vergehen, zwischen Anfang und Ende, bis zum Ende der Welt, im Dämmerzustand, in der Dämmerung und im Halbdunkeln, in der äußeren Ferne und wiederum zurück zum Anfang. In dieser Geschichte sind die Schicksale versus Filmmontage angesiedelt. Das ist Schwäche und Stärke zugleich. Während der unchronologische Ablauf mit seinen vielen Zeitsprüngen vielleicht ein Ärgernis ist, und den Filmbesuchern eine hohe Konzentration abverlangt, zeigt die Stärke des Films ein intensives Bemühen die Beziehungen der Personen untereinander zu verifizieren. Die Wurzeln von „21 Gramm“ liegen in der Zukunft, nicht in der Vergangenheit. Jemand, der einem anderen ein Leid zufügt, ist der Verzweifelung nahe, nicht der edlen Melancholie; denn das ist auch eine Frage der Moral und der Wahrhaftigkeit. Die Leidtragenden dagegen sind die, die versuchen, das Geschehen unwirksam zu machen. Für beide gilt der tiefe Blick in die Augen. Er brennt wie ein Laserstrahl.
Das ist die Stunde des Feuers, das aus Gegensätzen komponiert ist: über die alles aufsaugende Zeit hinweg, über dessen Logik hinweg, die sich permanent auf Kollisionskurs befindet, so dass sich Wirkung und Ursache aneinander reiben. Das ist Erkenntnis mit geschlossenen Augen. Und diese Oberfläche ist zugleich eine Tiefe, die sich in der absolut perfekten Darstellung der Schauspieler niederschlägt. In „21 Gramm“ sehen wir zu, wie sich diese Schicksale miteinander verweben, wie in emotionalen Bildern die wahren Motive und Gefühle der Hauptdarsteller als komplexe Einheit der Gegensätze erscheinen, und auch wieder nicht, weil sich diese Widersprüchlichkeit durch die nächste Einstellung aufhebt. Es gibt Zeitpunkte im Film, an denen sich das Schicksal der agierenden Personen in einem anderen wiederfinden könnte. So nahe, so dicht sind die Kontraste, dass jeder für sich selbst erfahren muss, ob man damit leben kann, oder sich davon löst.
Das ist auch die Methode, mit der INARRITUS sein gefühlvolles Psychodrama zeichnet. Es ist ein Film mit jener Gefühlsintensität und in gewisser Weise auch philosophischer Qualität, der ständig am Unterbewusstsein nagt: ein Film über Todesnähe, Todesangst, über den Umgang damit. Wie im alltäglichen Leben, so erfährt man immer ein Stückchen mehr über die Personen, die jemanden begleiten: als Bekannter, als Freund, als Partner oder als Unbekannter. Mit wem haben wir Umgang, wer benutzt und schützt uns, wer sucht nur seine Vorteile, und wer ist auch im Alter, buchstäblich in der letzten Sekunde unseres Lebens noch für uns da? Wie Christina, die in tiefe Trauer um ihre Familie versinkt, die in Trance verharrt, so scheint sich der Kreislauf vom Werden und Vergehen als Vorstufe zur Erlösung im Tod herauszukristallisieren. Der ganze Materialismus des Sterbens in diesen Szenen dargestellt: die Witwe des Verstorbenen sammelt die persönlichen Gegenstände ein und trägt sie im Korridor eines Krankenhauses am Empfänger vorbei, während der Off-Sprecher die Szene kommentiert.
Diese Konfrontation mit der realen Wirklichkeit ist die eigene Katharsis: das Licht reicht aus, um den Tag von der Dämmerung zu unterscheiden. Packende Farben, die nicht mit der Oberflächlichkeit rebellieren, die Kamera, die sich auf die Mimik und Gestik der Figuren konzentriert, und die wohlweislich alle Töne zu unterscheiden vermag, der Oscar Anwärter Sean PENN in Hochform, der sich jener Kausalkette verschreibt, die ein Schwerkranker durch(er)lebt, und der seine Ausweglosigkeit erkennt, die Alp-Träume eines Sterbenden, das ist bewegendes Kino. Und weil die Kamera zu allen Beteiligten heranpirscht, erscheinen sie auch als verirrte Personen. Niemand dringt durch sie hindurch. Hier ist das Sehen kein böser Blick, sondern ein toter Blick, so als ob er den Zuschauern im Kino den finalen Schuss überlassen will. Der Film entwickelte eine seltsame Nähe zu den Sterbenden und zu den Überlebenden.
Benicio DEL TORO, der am Tod dreier Mensche Schuld hat, ist eine Begegnung besonderer Art. Es ist ein Taumel in die Panik, in die Furcht, die Überraschung und die Grausamkeiten, die das Leben offeriert: die Sehnsüchte eine schuldbeladenen Menschen mit einer abwehrenden und einer emporstreckenden Hand. Er dringt in eine Wohnung ein und bittet Sean PENN darum, ihn zu erschießen. Hier verliert sich alles, verschiebt sich alles, wird überdeckt, bis nichts mehr zu erkennen ist. Was wirklich passiert und wirklich zusammen kommt, erfährt man erst durch die nächste Einstellung. Diese Szenen lassen einen starr im Sitz gefrieren. Die Botschaft tritt ans Licht: wir erleben das Leben nur in Perspektiven, in Ausschnitten, in Zeitfenstern. Mal nahe, mal halbnahe, mal in übermächtigen Rhythmen, mal mit dickem, mal mit dünnem Sound, mal in panischer Eile, aber immer als Ereignis. Wir wissen nun, wie die Geschichte ausgeht. Die Bilder sind bekannt: dunkel Bilder, schummerige Bilder, schmutzige und ungeschminkte, unruhig aufgenommen, reine und geronnene Bilder. Alleine sie rechtfertigen schon den Film. Die vielen Zeitsprünge erlauben trotz aller Kritik den distanzierten Blick auf die Handlung und auf die Philosophie. Wer am Ende ratlos ist, wird zurück bleiben: Worte sind Träume und Träume sind Worte. Nur mit tiefem Schwermut und mit grenzenlosem Hass auf die Ungerechtigkeiten ist dieser Film zu sehen.
Es gibt keine Erscheinungen im Leben, die einseitig sind. Das Leben ist ein Prozess mal mit mehr, mal mit weniger harmonischen Abläufen. Die Widersprüche beherrsche es, mit Hauptseiten, mit Nebenseiten. Aus dem Tod entsteht Leben und das Leben wird durch den Tod beendet. Das Neue kann nur aus dem Alten hervorgehen. Tod, Reue, Schuld, Erlösung- eine große multiple Erzählung, das immer wiederkehrende Leiden, das sind lebendige Abbilder für die Zukunft. Diesen Film gibt es alle zehn Jahre nur einmal. Jeder kann sich überlegen, ob er den aufgeworfenen Problematiken entfliehen will oder standhalten kann. Es ist kein Schlager aus der Traumfabrik, nicht verlogen, nicht sentimental, niemals werden Klischees bedient, niemals ist er vorhersehbar. „21 Gramm“ ist eine filmische Säuberungsaktion. Er räumt endlich mit den kitschigen Tröstungen, die uns noch in „Unterwegs nach Cold Montain“ begegnet sind, auf. Je klarer der Film wird, desto trüber wird das eigene Leben. Seit der Geburt geht es auf Umwegen beständig dem Sarg entgegen. „21 Gramm“ trägt dazu bei, diese philosophische Wahrheit zu begreifen. Was von der Leinwand herab ins Auge springt, das ist der bleibende Schock des Augenblicks. Der Film ist eine Entdeckung über das Erste, das Endgültige, das Bleibende, über Gefühle, über die Schatten, die der Spiegel wirft. Jeder Blick gewährt uns einen Einblick ins verbotene Terrain der eigenen aufgeladenen Schuld: ein Tasten und ein Gleiten bis in die Tiefen der Psyche. Das Leben hat viele Augen. Das ist die zwingende Logik von „21 Gramm“.